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Liberalität und religiöse Verbohrtheit in den Vereinigten Staaten von Amerika (21. Dezember 1997)

In der Gesellschaft der Vereinigten Staaten gibt es eine, schon in ihren Anfängen angelegte, Spannung zwischen Liberalität und religiöser Verbohrtheit. Die ersten europäischen Siedler waren Leute, die für sich religiöse Freiheit suchten, und die meisten von ihnen waren bereit, diese Freiheit auch anderen zu gewähren (siehe z.B. The Maryland Toleration Act). Immer aber hat es unter diesen Leuten Fraktionen unduldsamer Fanatiker gegeben (siehe z.B. The Salem Witch Trials, The Scarlet Letter)

Einerseits wird das Grundrecht der Redefreiheit - bis zur Tolerierung extremer Standpunkte - wohl nirgendwo so hochgehalten wie in den USA. Andererseits scheinen dort die Unduldsamen ein besonderes Geschick entwickelt zu haben, sich für ihre Zwecke des Justizwesens in einer Weise zu bedienen, die einem Liberalen die Haare zu Berge stehen lassen kann.

Dafür ist der Fall Bertrand Russells, der sich zu Beginn der vierziger Jahre in New York abspielte, ein nachgerade klassisches Beispiel: Das City College of New York wollte Russell zu einer einjährigen Gastprofessur vepflichten. Gegner Russells, die sich unter anderem auf dessen antireligiöse und liberale Schriften beriefen, wollten dies verhindern. Es kam zum Prozeß, in dem es den Gegnern gelang, die Gerichtsverfassung des Staates New York mit zum Teil üblen Machenschaften jeweils so zu ihren Gunsten anzuwenden, daß der Board of Higher Education sein Vorhaben schließlich aufgeben mußte. Russell war, laut Gerichtsbeschluß, "unwürdig" die Söhne und Töchter der Bürger New Yorks zu unterrichten.

Bemerkenswert an dieser Geschichte ist auch die Tatsache, daß der vielstimmige Protest aus Kreisen liberaler Intellektueller nicht die geringste Wirkung erzielte.

Es mag sein, und viele andere Beispiele aus älterer und jüngerer Zeit scheinen dies zu belegen, daß sich das Gesetz in den USA, vielleicht mehr als in anderen demokratisch verfaßten Staaten, auch und besonders zur Durchsetzung von Unrecht mißbrauchen läßt.

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