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Zum Leitartikel in DIE ZEIT Nr 10,
vom 4. März 1999:
Das Urteil, von Martin Klingst

 

Sehr geehrter Herr Klingst!

Mit Interesse habe ich Ihre Meinung hinsichtlich des Verhaltens von US Behörden im Falle der Brüder LaGrand zur Kenntnis genommen.

Ich bin wie Sie der Meinung, daß die Existenz der Todesstrafe in den USA einen Skandal ohnegleichen darstellt. Einen Skandal, der seine besondere Dimension dadurch gewinnt, daß sich die jeweiligen politischen Repräsentanten der USA weltweit als Hüter der Menschenrechte gerieren.

Sie haben dazu keinerlei Legitimation. Jeder verantwortliche Vertreter der "europäischen Wertegemeinschaft" sollte dies bei jeder sich bietenden Gelegenheit deutlich machen, zumal sich dem Skandal der Todesstrafe eine Reihe weiterer Skandale hinzugesellen. Von diesen ist die Weigerung der USA, einem Vertrag zur Ächtung von Landminen beizutreten, nur der eklatanteste. Daß Macht in einem gegebenen Kontext quasi automatisch auch Recht konstituiert, mag eine traurige Realität sein; sie sollte freilich nicht automatisch zu Resignation und fatalistischer Ergebenheit führen.

Die Todesstrafe ist im übrigen nur die tiefste Stelle eines Sumpfes, in den sich das US Rechtswesen zunehmend verwandelt. Tatsache ist, daß die USA nicht nur internationale Abkommen und Beschlüsse internationaler Gerichte mißachten. Die dort übliche alltägliche Praxis der Rechtsfindung spricht inzwischen ihrer eigenen Verfassung Hohn.

92 Prozent aller in den Einzelstaaten anhängigen Strafverfahren enden mit sogenannten Plea Bargains. Dabei werden Schuldvorwurf und Strafmaß zwischen Staatsanwälten und Vertretern des oder der Beschuldigten im wahrsten Sinne des Wortes ausgehandelt. Gerichte spielen bei diesen Abkommen lediglich die Rolle von Notariaten. Interessanterweise haben die US-amerikanischen Gerichte im Laufe der Zeit an ihrer Entmündigung selbst mitgewirkt (vgl. etwa: http://www.law.emory.edu/ELJ/volumes/spg98/guido.html und U.S. v. Singleton).

Diese, ganz offen mit ökonomischen Argumenten begründete Praxis gibt einem gewichtigen Teil der Exekutive eine kaum kontrollierbare Macht. In offenkundigem Gegensatz zum Fünften Verfassungszusatz beruht sie auf Drohungen und Versprechungen, und auch sie setzt ihr eigenes Recht. Sie öffnet der Willkür Tür und Tor. Nicht zuletzt dann, und das wird durch eine Vielzahl von Fällen belegt, wenn es für die Strafverfolger von Vorteil ist, mehrere Beschuldigte gegeneinander auszuspielen. (siehe auch: Families Against Mandatory Minimums). Und da diese Macht faktisch unkontrollierbar ist, wird sie nicht selten zur Durchsetzung zweifelhafter (etwa fundamentalistisch christlich motivierter) Interessen eingesetzt.

Formal mögen die USA noch als Rechtsstaat gelten. Realiter haben sie dieses Prädikat längst verwirkt. In "The Problem of Plea Bargaining" (http://home.dti.net/open/coercion.html ) schreibt Steven Silberblatt (Anwalt für The Legal Aid Society in Queens): "... We function schizophrenically; our legal ideology is bound to a system of values we no longer actually cherish, and are unwilling therefore to finance. Like a Hollywood set, our system presents to the public a facade of "rights" while the same system systematically violates those rights as the only means to insure its own survival."

Mit freundlichen Grüßen

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