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Dossier "Sloterdijk-Debatte" in DIE ZEIT Nr 38, vom 16. September 1999

Dank zunächst an die Redaktion für den Abdruck der inkriminierten Rede. Es wäre in der Tat beschämend (um nicht zu sagen, ungehörig) gewesen, wenn eine öffentliche Diskussion in diesem Blatt fortgegangen wäre, ohne den gemeinen ZEITgenossen in deren Anlaß substantiell einzuweihen.

Zur Sache. Nach ausgiebiger Lektüre des Sloterdijk'schen Textes (aber in Unkenntnis früherer Werke des Autors und des Autors selbst) fragt sich der von den Nachbeben humanistischer Bildungstradition immerhin leidlich Erschütterte: So what?

"Quid novi?", so pflegte unser Lateinlehrer zu Beginn jeder Schulstunde zu fragen. Meistens gab es etwas Neues, und wir waren mit unserem Latein noch nicht am Ende.

Quid novi in der Sloterdijk'schen Rede? Spekulationen über mögliche Antworten auf die Herausforderungen moderner Anthropotechniken? Von Anthropotechnik (im Sloterdijk'schen Sinne; von Fahrzeugingenieuren - zum Beispiel - ist dieser Terminus bereits anderweitig besetzt!!) im Kleinen wie im Großen sind wir längst - nolens volens - erfaßt. Im Großen gelegentlich auch Soziotechniken genannt. Und selbst ein so entschlossener Verteidiger der offenen Gesellschaft wie Karl Popper sprach in diesem Zusammenhang von piecemeal social engineering, wobei durchaus unklar blieb, wer die Ingenieure und wer die Ingenieurten sein sollten. Regeln für den Menschenpark? Die haben wir längst, für viel Zucht und Zähmung, mehr schlecht als recht, das ist freilich zuzugeben. Aber immerhin. Und manche beziehen sich auch auf das offenbar zur Debatte stehende Thema der Auslese, einige explizit, andere stillschweigend: Ungewünschte Kinder zum Beispiel, haben, so wird vermutet, größere Chancen, zu Friedensstörern heranzuwachsen; sie vom Geburtenfatalismus auszuschließen, erscheint daher opportun und ist mithin gang und gäbe. (Interessanterweise eine Regel, die von der gegenwärtigen, aber auf eine fast zweitausendjährige Tradition zurückgehenden Realisierung des gottvertretenden platonischen Staatsweisen radikal abgelehnt wird.) In anderen Maßstäben werden ganze Menschengruppen durch gewisse Viren von der weiteren Fortpflanzung ausgeschlossen (denn ihnen wirksam zu helfen, wäre zu teuer oder aus anderen Gründen nicht wünschenswert). Oder durch Bürger- und Stammeskriege, in die keine selbstlosen Hüter der Menschenrechte (mit Bomben auf die Untertanen der jeweiligen Bösewichte) je eingreifen. Nein, erkennbare ernstzunehmende Antworten auf die Herausforderungen der gegenwärtigen und zukünftigen Anthropotechniken schlägt Herr Sloterdijk nicht vor. Ganz zu schweigen von den Pseudo-Anthropotechniken (s. a. The Genetic Algorithms Archive, Neuroinformatik Bonn), denen sich nicht wenige Informatiker - von journalistischer und philosophischer Neugier fast unbeachtet - forschend hingeben, uralte Homunkulus- und Golemphantasien (s.a. Background on the Golem Legends) munter weiterträumend.

Quid novi? Vielleicht der Stil der Rede? Ihre schillernde Diktion? Aber auch das ist zu bezweifeln. Den anfänglichen Einlassungen zufolge (und dem Anlaß ohnehin) ist vielmehr zu vermuten, daß auch diese Rede eigentlich ein Brief ist, und an wen denn sonst, als an jenen schlauen kleinen Mann aus Meßkirch, dessen luftig-lichtes Sprachhaus vor lauter Dunkelheit auf manche tiefen Denker noch immer so beeindruckend wirkt, daß sie ihn trotz seiner anderweitigen Naivität (oder Dummheit?) für einen der ultimativen Philosophen des Jahrhunderts halten. Und damit jener die Botschaft auch posthum gut aufnehme, ist es nur zu verständlich, daß diese, sich (zumindest in großen Teilen) der Architekturelemente des nämlichen Hauses bedienend, in mancherlei dunklen und folglich beliebig bös- oder gutwillig lesbaren Andeutungen verharrt.

Nun mag es freilich sein, daß der Sloterdijk'sche Text eine starke Dosis heideggerisch sprachspielender Spitzen gegen die philosophischen herrschenden Mächte enthält, von Spitzen, die - im Rahmen persönlicher und in akademischen Kreisen nicht ungewöhnlicher Fehden - nur vom Eingeweihten (oder Betroffenen?) wirklich empfunden werden. In der Tat: Nur so scheint die Heftigkeit des sprachlichen Einschlags, zu dem Herr Assheuer vor zwei Wochen glaubte ausholen zu müssen, dem unbefangenen Beobachter einigermaßen verständlich. Und die nicht minder heftigen Repliken des Gerügten eine Woche später.

Doch dann, pardon, wäre die Anzettelung jener Diskussion in aller Öffentlichkeit vollends überflüssig gewesen. Und DIE ZEIT hätte besser daran getan, ihre Spalten von Anfang an sachlicher Debatte über einen wichtigen Themenkomplex anstatt Insider-Polemiken zu widmen. Der ebenfalls im Dossier abgedruckte Aufsatz von Ronald Dworkin mit seiner wohltuend klaren, angelsächsischem Usus folgenden Diktion macht diese Unterlassung immerhin zum Teil wett.

Mit freundlichem Gruß

 

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