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Mehrwert - ein sozio-ökonomisches Gedankenspiel
oder: Von Sklaven und Robotern

von Hans-Georg Stork1

 


In einem fernen, völlig vom Rest der Welt isolierten Land (nennen wir es Isoland) lebten 10100 Menschen. Von diesen hatten 100 eine spezielle Begabung: sie konnten Anderen, die diese Begabung nicht hatten – also den restlichen 10000, ihren Willen aufzwingen. Gar nicht einmal so sehr mit Gewalt, eher noch mit einer Art Charisma. Sie hatten Isoland unter sich aufgeteilt und vertrugen sich recht gut miteinander.

Gemeinsam machten sie von ihrer Spezialbegabung, man könnte sie "Macht" nennen, insofern Gebrauch, als sie auch die übrigen 10000 Bewohner unter sich aufteilten - 100 für jeden der 100 -, um sich von diesen jeweils 100 bedienen und alles herstellen zu lassen, was sie zum Leben brauchten und darüber hinaus noch manch andere Annehmlichkeit. Wir nennen die 100 die B’s und die 10000 die A’s. Wir sagen B’s, weil die 100 alles in Isoland besassen, nicht nur Grund und Boden und seine Schätze, sondern eben auch die 10000 A’s. Letztere nennen wir die Arbeiter. Tatsächlich waren es, gemäss gängiger Terminologie, recht- und besitzlose Sklaven.

(Einzuschieben ist an dieser Stelle, dass die Einwohnerzahlen 100 und 10000 frei erfunden sind und nur den Zweck haben anzudeuten, dass die Zahl der A’s die der B’s um Grössenordnungen übersteigt. Diesen Zweck haben sie nun erfüllt, und wir werden sie daher nicht weiter in’s Spiel bringen.)

Natürlich mussten auch die Grundbedürfnisse der A’s irgendwie befriedigt werden, damit diese ihre Arbeit für die B’s erledigen konnten. Aber dafür sorgten die B’s schon. Von den Produkten, die die A’s für die B’s herstellten, gaben die B’s den A’s gerade genug ab, damit diese ein Auskommen hatten. Und die B’s gaben den A’s auch ein wenig freie Zeit, damit diese dies oder jenes für sich selbst oder ihresgleichen tun konnten.

So war eigentlich alles bestens, und es hätte auf ewig so weitergehen können. Aber es kam immer häufiger vor, dass einem B das Eine oder Andere fehlte, mit dem er seine A’s versorgen musste. Er musste sich dann an einen anderen B wenden, der ihm das Fehlende geben konnte – gegen eine Art Schuldschein. Diese Schuldscheine, die auch weiter gereicht werden konnten, entwickelten sich zu einer regelrechten Währung für den Handel der B’s untereinander.

Damit es beim Handeln kein Durcheinander gäbe, beschlossen die B’s nämlich, einen von ihnen – sie nannten ihn fortan den Bank-B (oder BB), mit der Ausstellung und Verwaltung der Schuldscheine zu betrauen. Und um zu verhindern, dass für jeden Gegenstand und für jede Dienstleistung eigens ein Schuldschein geschrieben werden musste, einigten sich der BB und die übrigen B’s darauf, die Scheine nur mit Zahlen zu benoten und es den jeweils Handelnden zu überlassen, dem betreffenden Handelsgut oder der erbrachten Dienstleistung einen Zahlenwert beizumessen. Dieser wurde dann entsprechend mit Scheinen beglichen.

Fortan hiessen diese Scheine auch Banknoten, und die auf ihnen notierten Beträge "Credos". Es gab 1-Credo Scheine, 2-Credo Scheine, 5-Credo Scheine, und so weiter. Über kurz oder lang erwarben die B’s damit nicht nur Dinge, die sie für ihre A’s brauchten, sondern auch solche, nach denen sie selbst ein Verlangen spürten, die ihnen ihre eigenen A’s aber nicht liefern konnten. So entstand ein veritabler Markt, allein für die B’s. Nennen wir ihn den B-Markt.

Übrigens wurden auf diesem Markt auch die A’s gehandelt. Letztere waren ja immer Eigentum eines bestimmten B, und wenn dieser meinte, einer seiner A’s würde von ihm nicht mehr gebraucht, könnte aber einem anderen B nützlich sein, so bot er diesen A auf dem B-Markt an.

Und so war eigentlich wieder alles bestens, und es hätte auf ewig so weitergehen können. Die B’s machten miteinander Geschäfte, ohne dabei voneinander wesentlich zu profitieren (was sie eigentlich auch nicht wollten), hatten ein gutes Leben und kümmerten sich um ihre A’s, die ihnen ihren Reichtum bescherten.

Doch nun, da die B’s für sich gewissermassen das Geld erfunden hatten, kamen sie auf ganz neue Ideen. War es nicht ein wenig lästig, sich um die vielen A’s sorgen zu müssen? Die könnten das, wenn man ihnen nur etwas Geld gäbe, doch eigentlich selbst tun. Und so geschah es. Den A’s wurde erzählt, sie wären nun frei und könnten sich den B, für den sie arbeiten wollten, selbst aussuchen. Für die Produkte und Dienstleistungen, die sie dann herstellten beziehungsweise erbrachten, würden sie einen Lohn in Form von Credos erhalten. Mit diesem Lohn könnten sie sich auf einem eigens für sie eingerichteten Markt - dem A-Markt - kaufen, was sie zu ihrem Lebensunterhalt bräuchten und selbst angefertigt hätten. Die B’s selbst waren fortan Unternehmer, die einzigen Leute, die zusammengenommen alles besassen, was nötig war, um Waren zu produzieren oder Dienstleistungen zu erbringen.

Nur waren die A’s nicht länger das Eigentum der B’s, zumindest nicht formal, de iure, mit Eigentumstitel und dergleichen. Aber das Wissen und die Fähigkeiten der A’s gehörten weiterhin de facto den B’s. Und natürlich auch alles, was die A’s produzierten.

Warum "de facto"? Nun, während sich früher ein A, was seinen Lebensunterhalt anging, in aller Regel auf den B, dem er gehörte, verlassen konnte, musste er in der neuen Situation selbst dafür Sorge tragen. Er war also auf den Lohn angewiesen, den er von einem der Unternehmer bekam. Ohne diesen war er mehr oder weniger dem Untergang geweiht. Er war vom Lohn abhängig, ein "Lohnabhängiger". Und den Lohn bekam er nur, wenn er einem Unternehmer seine Zeit und sein Know-how zur Verfügung stellte. Oder, genauer gesagt: zur Verfügung stellen konnte. Denn auch die Unternehmer waren nun frei, Bewerbungen von A’s abzulehnen oder anzunehmen. Es konnte also durchaus sein, dass nicht alle A’s mehr eine Arbeit fanden.

Früher war es faktisch so, dass die A’s in ihrer Gesamtheit von dem, was sie erarbeiteten, einen mehr oder weniger kleinen Teil für sich behalten durften und der grosse Rest an die B’s ging. Man kann dies auch mit Hilfe des abstrakten Begriffs "Wert" ausdrücken: Die A’s schufen Werte für die B’s, durften aber selbst davon auch etwas haben. Alles was über die von ihnen für ihren eigenen Lebensunterhalt genutzten Werte hinausging, war gewissermassen ein "Mehrwert", der in seiner Gänze den B’s zur Verfügung stand. Und diese machten sich, wie schon erwähnt, davon zumindest materiell ein gutes Leben, jedenfalls ein viel besseres, als es die A’s hatten.

Nun, da es das Geld gab, konnte man den Werten Credo-Beträge zuordnen. So wurden alle Produkte und Dienstleistungen, sowie überhaupt Dinge, die man zum Gegenstand eines Besitzwechsels machen konnte, Dinge "von Wert" also, mit einem jeweils auszuhandelnden Geldwert, einer Zahl, belegt. Und so wie früher auch der einzelne A einen Wert hatte, dessen Geldmass auf dem B-Markt bestimmt wurde, so hatte jetzt die Arbeitszeit der A’s einen Wert, der sich in dem in Credos bezifferten Lohn ausdrückte. Der BB, die "Bank" von Isoland, emittierte die Credo-Scheine, welche für die zahlreichen "Geschäfte" notwendig wurden, die zu erwarten waren.

Der Lohn entsprach in etwa dem geldlichen Wert der Dinge, welche die A’s zum Leben brauchten, aber in keiner Weise dem Gesamtwert dessen, was sie produzierten. So konnten die A’s nur einen geringen Teil ihres eigenen Produktes kaufen. Der grössere Rest verblieb bei den B’s, und manches davon in Form von Gütern, die für die A’s unerschwinglich waren. Das lag daran, dass ein A eben nur so viele Credos Lohn bekam, als er zum Überleben brauchte, und allenfalls ein wenig mehr. Die Preise wurden entsprechend - und weitgehend, ohne ausgiebig mit ihnen feilschen zu können, von den B’s - festgesetzt.

Ein Beispiel mag dies illustrieren: Nehmen wir an, ein B besitzt alle Geräte und Zutaten, welche nötig sind, um Brot und Kuchen zu backen. Er stellt einen A ein, der am Tag zwei Laib Brot und eine leckere Torte backen kann. Davon bietet B einen Laib auf dem A-Markt an, behält den zweiten Laib für sich, schneidet sich von der Torte ein gutes Stück ab und hält den Rest für den B-Markt vor. A-s Lohn reicht nun knapp aus, um auf dem A-Markt den Laib Brot, den er selbst gebacken hat, zu erwerben. Der zweite Laib Brot und die Torte stellen den Mehrwert dar, welchen der A für den B schafft, und der sich als Handelsware ebenfalls in Credos audrücken lässt.

Und so war eigentlich wieder alles bestens, und es hätte auf ewig so weitergehen können. Die A’s hatten, sofern ein B ihnen die Gelegenheit zur Arbeit gab, ein Ach-und-Krach Auskommen, und die B’s hatten weiterhin ihr gutes Leben, mit dem Unterschied, dass es noch besser war als früher, da sie sich nicht mehr um das Wohl und Wehe ihrer A’s kümmern mussten.

Wenn nicht etwas gänzlich Unerwartetes geschehen wäre. Die A’s wurden aufmüpfig. Angesichts des Saus und Braus, in dem die B’s schwelgten, wurde ihnen klar, dass da etwas nicht stimmen konnte, wenn sie selbst ständig grosse Einschränkungen hinnehmen mussten, um über die Runden zu kommen. Und sie begannen, sich zusammen zu tun und darüber nachzudenken, wie sie mehr von “dem Kuchen”, den sie backten, für sich bekommen könnten. Sie begannen zu streiken. Nicht alle auf einmal, doch so, dass es den B’s hinreichend “weh tun” musste. Nadelstichartig, gewissermassen.

Die B’s erkannten, dass sich im Laufe der Zeit ihre “Lohnkosten” um ein für sie schwer erträgliches Mass erhöhen würden, wenn sie den Forderungen der A’s nachgäben. Sie sannen auf Abhilfe. Technische Entwicklungen, die sie schon länger für sich hatten durchführen lassen, kamen zustatten. Sie liefen darauf hinaus, dass Werkzeuge immer effizienter wurden und schliesslich ganze Arbeitsgänge, die früher von Hand ausgeführt werden mussten, von Maschinen erledigt werden konnten. Auch Dienstleistungen, wie zum Beispiel im Transportwesen oder im Handel, konnten weitgehend automatisiert werden. Viele Menschen brauchten dabei nicht mehr mitzuwirken.

Diese Entwicklungen nutzten die B’s fortan in grossem Umfange aus. Das Resultat: es wurden immer weniger A’s benötigt, um für die B’s den gewohnten Mehrwert (und mehr!) zu produzieren. Während die relativ wenigen für die Nutzung der Technik und ihre Weiterentwicklung erforderlichen und qualifizierten A’s und andere “Funktionseliten” ein gutes Einkommen hatten, wurde für mehr und mehr Lohnabhängige die Lage immer prekärer.

Was tun? Irgendwie hatte es sich bei den B's herumgesprochen, dass man die Leute, die nun ohne Einkommen waren, nicht einfach verhungern lassen durfte. Also spendierte man ihnen - wie früher - zähneknirschend das Existenzminimum, für das sie nun - anders als früher - nicht mehr arbeiten mussten, nicht mehr arbeiten konnten. Aus Sklaven waren Roboter geworden. Roboter kaufen nichts. Die ehemaligen Sklaven auch nicht viel. Der A-Markt wurde entsprechend angepasst. 

Und so war eigentlich wieder alles bestens, und es könnte auf ewig so weitergehen. Oder ...? Was kommt als Nächstes? Immerhin: Roboter beschweren sich nicht, werden nicht müde und verlangen keinen Lohn. Wozu dann noch die vielen A’s?


In aller Kürze: Der Sklavenhalter hat die Macht, sich das von den Sklaven Hergestellte (Produkte) oder Geleistete (Dienste) anzueignen. Er muss lediglich dafür sorgen, dass die Sklaven ihre Grundbedürfnisse befriedigen können. Lohnarbeit ist die Übertragung dieser Sorge auf einen mehr oder weniger anonymen Markt. Hätte der Sklavenhalter die Möglichkeit, sich alle Produkte und alle Dienste, die er meint nötig zu haben, von Maschinen herstellen beziehungsweise erbringen zu lassen, so könnte er auf Sklaven verzichten, bräuchte also nicht einmal mehr für deren Grundbedürfnisse zu sorgen. Ebenso die „herrschende Klasse“ der Eigentümer aller Produktionsmittel: würden Maschinen (“Roboter”) alle ihre Bedürfnisse befriedigen, so wären weder Lohnarbeiter noch ein deren Bedürfnisse befriedigender Markt nötig. Wäre es dann nicht an der Zeit, dass wir alle zur „herrschenden Klasse“ würden?



1 (h-gATcikon.de), September 2016