Legitimation und Akzeptanz
in der Europäischen Union
von Hans-Georg Stork (h-gATcikon.de)
Anmerkungen
anlässlich eines Kolloquiums im Mai 2016 mit dem Verfassungsrechtler
und früheren Verfassungsrichter Dieter Grimm zu EU Verfassungsproblemen.
In seinem Buch „Europa ja – aber welches? Zur Verfassung der europäischen Demokratie.“
([1]) versammelt der Verfassungsrechtler und ehemalige
Verfassungsrichter, Dieter Grimm, eine Reihe von Aufsätzen zum Problem
der demokratischen Legitimation und der allgemeinen Akzeptanz von im
Rahmen des EU Vertragswerks vereinbarten Verfahren und getroffenen
Entscheidungen. Die folgenden als Ergänzung verstandenen Anmerkungen
eines juristischen Laien beziehen sich auf die in den ersten beiden
Beiträgen ([2] und [3]) dieses Bandes angestellten Überlegungen.
Bei diesen stehen, wie bei einem
ausgewiesenen Fachmann als Autor nicht verwunderlich,
verfassungsrechtliche Aspekte im Vordergrund. Kurz zusammengefasst
laufen sie darauf hinaus, dass die in frühen EuGh-Urteilen implizite
und an der Zielvorstellung des Gemeinsamen Marktes orientierte
Auslegung der (damals EWG-) Verträge diesen quasi Verfassungsrang
gegeben habe. Dies habe den Spielraum einer demokratisch verfassten
Politik in Hinblick auf eventuell notwendige Änderungen gesetzartiger
Regelungen sowohl auf europäischer Ebene als auch in den
Mitgliedsstaaten immer mehr eingeengt und damit einer breiten
gesellschaftlichen Akzeptanz des Wirkens von EU Organen durch die
Staatsvölker (Bürger) der EU entgegen gestanden. In einem Satz: Je
grösser das Defizit an demokratischer Legitimation, um so geringer die
Akzeptanz der EU als politische Entität sui generis.
Unabhängig von diesem speziellen EU
Kontext drängen sich hierzu drei Fragen auf: Erstens, was ist und wie
entsteht demokratische Legitimation? Zweitens: Was ist und wie entsteht
Akzeptanz bezogen auf politische Systeme? Und schliesslich drittens:
Wie eng ist der Zusammenhang zwischen demokratischer Legitimation
politischer Organe einerseits, und deren Akzeptanz in der Bevölkerung
andererseits tatsächlich? Dabei ist jeweils zu fragen, wie es sich mit
all dem in einem multinationalen und suprastaatlichen Gebilde wie der
EU verhält.
Antworten auf die erste Frage sind
Legion und zumindest in erster Näherung vergleichsweise einfach. Das
liegt vermutlich unter anderem daran, dass das, worum es geht, bis zu
einem gewissen Grade formalisierbar ist. Eine naheliegende –
deutschsprachige – Formalisierung sind die Absätze 1-3 des Artikels 20
GG (Grundgesetz), die die Quintessenz einer Entwicklung darstellen,
welche etwa mit Beginn der europäischen Aufklärung vor zirka 300 Jahren
ihren Anfang nahm.
Der Kernsatz lautet: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“. Im gleichen Absatz 2 des genannten Artikels wird beschrieben, wie dies zu geschehen hat: „Sie
(die Staatsgewalt) wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch
besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der
Rechtsprechung ausgeübt“. Also Volkssouveränität und Gewaltenteilung mit – wie es im Angelsächsischen heisst - „checks and balances“ als tragenden Prinzipien der demokratischen Ordnung.
Wie alle Formalisierungen
ist auch diese eine Abstraktion. Doch anders als etwa bei der
mathematischen Darstellung eines Naturgesetzes handelt es sich hier
gewissermassen um eine synthetische Abstraktion. Als solche bezeichnet
sie ein gedankliches Konstrukt, welchem nur durch das Tun und Lassen
von Menschen in ihrem Zusammenleben eine reale Bedeutung gegeben werden
kann. Es ist eine Art Programmspezifikation, die in geeigneter Weise zu
implementieren ist.
Die wohl problematischste Vorschrift dieser Spezifikation ist ihr Hauptsatz: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“.
Dessen inhaltliche Realisierung über die allfälligen Wahl- und
Abstimmungsmechanismen hinaus ist, wie man weiss, schon im
nationalstaatlichen Rahmen keine einfache Aufgabe. Wer ist das Volk?
Als Frage nach dem Ursprung von Staatsgewalt verstanden gab es darauf
durchaus verschiedene Antworten. Zum Beispiel gehörten Frauen lange
Zeit nicht dazu. Oder die Individuen waren hinsichtlich ihrer „Volkszugehörigkeit“
verschieden gewichtet. Man denke an das preussische
Dreiklassenwahlrecht. Das Alter, ab welchem man sich an Wahlen
beteiligen durfte, wurde mehrfach (nach unten) angepasst. Und immer
noch ist das Wahlrecht jenen versagt, die zwar aktive Mitglieder der
Gesellschaft eines Staates sind, diesem aber nicht formal als „Bürger“
angehören. Aber immerhin: auch wenn die Zugehörigkeit irgendwie
limitiert ist, geht – so könnte man argumentieren – die Staatsgewalt
doch zumindest von einem Teil des „Volkes aus“. Dass die Staatsgewalt „vom ganzen Volk“ auszugehen habe, wird offenbar nicht gefordert.
Wohin die Staatsgewalt
gehen soll, wird – wie gesagt – ebenfalls in Absatz 2 des Artikels 20
spezifiziert: Legislative, Exekutive, Judikative. Deren Akteure, auch
Mandatsträger genannt, sind alle letztlich durch die Wahlen (von
Teilen) des Volkes legitimiert, Entscheidungen zum Wohle des Volkes zu
treffen und für ihre Umsetzung zu sorgen. Ob ihre Entscheidungen und
deren Umsetzung zu Gunsten des ganzen Volkes ausfallen sollen, ist
nicht festgelegt. Freilich werden manche Mandatsträger durch Eid
zumindest darauf verpflichtet, Schaden vom Volke abzuwenden.
Das Volk also, der Demos, oder wenigstens Teile davon, ist – um den terminus technicus
im Titel von [3] zu gebrauchen – in einer Demokratie die einzige
Legitimationsressource staatlicher Gewalt und damit der Macht der
Mandatsträger. Insoweit ist dies immer noch die erwähnte synthetische
Abstraktion, die in den meisten der heute als demokratisch zu
bezeichnenden Staaten in der einen oder anderen Weise mittels
einschlägiger Institutionen konkretisiert wird. Deren wichtigste ist
zweifellos das Parlament, welches qua seiner nach vereinbarten Modi vom
Volk gewählten Mitglieder gewissermassen ein Abbild des Volkes
darstellen soll, dessen Meinungen es repräsentiert und dessen
Interessen es vertritt, was sich unter anderem in Gesetzen, aber auch
in Resolutionen und dergleichen, sowie in der Ratifikation oder
Nicht-Ratifikation internationaler Verträge manifestiert.
Dennoch, und darauf weist
Grimm in den genannten Aufsätzen ausdrücklich hin, verliert die
Legitimationsressource „Volk“ in der politischen Praxis oftmals an
Gewicht. So heisst es in [2], p1055:
„Noch
schlechter ist es mit der Einbettung des Parlaments in einen
fortlaufenden gesellschaftlichen Meinungsbildungs- und
Interessenartikulationsprozess bestellt. Dieser lässt schon in den
Mitgliedstaaten viel zu wünschen übrig, weil die Großtendenzen der
Verwissenschaftlichung und Internationalisierung der Politik dem
Parlamentarismus entgegenwirken.”
Mit anderen Worten: schon
auf der einzelstaatlichen Ebene sind Parlamente in ihrem Wirken
keineswegs ausschliesslich durch die (statistisch geglätteten)
Meinungen und Interessen ihrer Wählerschaft bestimmt. Vielmehr werden
sie - je höher die Staatsebene, auf der sie angesiedelt sind, desto
mehr - von mächtigen Sonderinteressen beeinflusst, die sich oftmals mit
Zwängen rechtfertigen, welche sich angeblich aus einer zunehmenden
Verflechtung des Weltgeschehens und des Welthandels („Globalisierung“) ergeben und den Spielraum für politische Entscheidungen beträchtlich verengen („es gibt keine Alternative“).
Hinzu kommt oftmals ein (per se nicht notwendig negativ zu bewertender)
Mangel an fachlicher Kompetenz der Mandatsträger oder an ihnen zur
Verfügung stehenden eigenen Beratungskapazitäten. Dies führt dazu, dass
die Vorbereitung wichtiger politischer Entscheidungen parlamentsfremden
sogenannten „Think tanks“ und privaten Beratungsunternehmen überlassen wird („outsourcing“),
deren Unabhängigkeit von durch Lobbyismus verstärkten
Partikularinteressen – etwa „der Wirtschaft“ oder des Finanzsektors –
nicht oder nur unzureichend garantiert ist. Oder, was möglicherweise
ebenso fragwürdig ist, den Exekutivorganen des Staates.
Gewiss, diese Tendenzen der – wie Grimm es zurückhaltenderweise nennt – „Verwissenschaftlichung und Internationalisierung der Politik“
gibt es seit geraumer Zeit, und die parlamentarische Repräsentation des
Volkes hat seit dem Beginn der Etablierung moderner Demokratien im
achtzehnten Jahrhundert wohl immer die Funktion gehabt, den Prozess der
Entscheidungsfindung in Gemeinwesen nicht nur so effizient wie möglich
zu machen, sondern auch den jeweiligen „Macht-Eliten“
Gelegenheit zu geben, ihre Vorstellungen dabei weitgehend
durchzusetzen. Allerdings ging die Entwicklung der neuzeitlichen
Demokratien auch einher mit einer Kodifizierung von einklagbaren
Bürgerrechten (im deutschen Grundgesetz z. B. die „Grundrechte“), der unter anderem die Idee der „Gleichheit aller vor dem Gesetz“
zugrunde lag. Die – in der Theorie – strikte Trennung der Recht
sprechenden Gewalt (Judikative) von den beiden anderen Gewalten
(Legislative und Exekutive) war notwendige Voraussetzung für
Rechtsstaatlichkeit und Rechtssicherheit, hohe Güter, die jedoch immer
gefährdet waren und es zunehmend sind. Beispiele aus jüngerer Zeit sind
etwa die Erosion des Richtervorbehalts (habeas corpus) in den Vereinigten Staaten, und die zunehmende Überwachungs- und Ausspähtätigkeit diverser sogenannter Sicherheitsdienste.
Wenn – wie en passant
oben bemerkt und im Weiteren begründet - bereits auf nationaler
beziehungsweise einzelstaatlicher Ebene das Problem der Legitimität
politischer Entscheidungen nicht so einfach zu lösen ist, wie es
vordergründig den Anschein hat, um wieviel schwieriger wird es dann
sein, wenn wir uns auf die Stufe eines Staatenbundes wie der EU
begeben?
Zwar finden wir im Aufbau der EU
Strukturen, die eine Art Gewaltenteilung darstellen: ein europäisches
Parlament, die EU Kommission mit exekutiven Funktionen, und den
Europäischen Gerichtshof (EuGH). Wie Grimm insbesondere in [3] betont,
waren jedoch und sind immer noch der Ministerrat und der Europäische
Rat (der Regierungs- und Staatschefs) die eigentlichen
Legitimationsressourcen, auch bezogen auf die Existenz und Arbeitsweise
der genannten EU Institutionen. Es sind die Regierungen und – qua
Ratifizierung – die Parlamente der Mitgliedstaaten, die sich
vertraglich auf die Errichtung, Einrichtung und Aufrechterhaltung des
„EU Gebäudes“ geeinigt haben und sich somit als die eigentlichen
Repräsentanten und Hüter der Interessen ihrer Staatsvölker innerhalb
dieses Staatenbundes verstehen. Und es sind die einzelstaatlichen
Regierungen und Parlamente, die Souveränitätsverzichten zustimmen
müssen, zum Beispiel wenn es darum geht, grenzüberschreitende
Angelegenheiten zu regeln, welche im Rahmen des Gemeinsamen Marktes die
Kompetenz und Fähigkeiten eines einzelnen Staates übersteigen.
Souveränitätsverluste ergeben sich - und
dies ist wohl einer der Hauptpunkte (wenn nicht der Hauptpunkt) der
Grimm’schen Kritik an der derzeitigen Situation der EU – nicht nur aus
politischen Entscheidungen, sondern vor allem auch aus der
Rechtsprechung des EuGH, die Grimm für einige Entwicklungen zumindest
als mitursächlich ansieht, welche gemeinhin mit dem Etikett „neoliberal“ bedacht werden. Dies betrifft insbesondere das Gebiet des Wettbewerbsrechts. Beispielsweise das „in den Verträgen enthaltene Verbot staatlicher Beihilfen“ ([2], p1048) und die vom EuGH veranlasste Anwendung dieser Vorschrift „nicht nur auf privatwirtschaftliche Unternehmen, sondern auch auf öffentliche Einrichtungen der Daseinsvorsorge“; und weiter: „die Gemeinwohlgründe, aus denen bestimmte Leistungen dem Markt entzogen waren, spielten dabei keine Rolle“
(ibid). (Ein markantes Beispiel hierfür ist der vielfach zu
beobachtende Rückbau der öffentlichen Renten- und
Krankenversicherungssysteme in den Mitgliedsstaaten, der teilweise mit
geradezu brachialen Methoden durchgesetzt wird. Weitere Beispiele
findet man in den öffentlichen Verkehrs- und Versorgungsinfrastrukturen
und im genossenschaftlichen und kommunalen Finanzwesen.)
So schwach also die nationalstaatlichen
Legitimationsquellen an sich schon sind (siehe oben), sie werden durch
die EuGH Rechtsprechung, Grimm zufolge, noch weiter geschwächt oder gar
vollends irrelevant. Dies nicht nur in Bezug auf europäische Politik
sondern vor allem auch in Bezug auf Gestaltungsmöglichkeiten in den
Mitgliedstaaten selbst. Die Priorität der europäischen Verträge und des
durch sie begründeten Sekundärrechts gebe sowohl den Verträgen als auch
Teilen des Sekundärrechts de facto
Verfassungsrang und den Gemeinschaftsinstitutionen „Kommission“
(Exekutive) und „Gerichtshof“ (Judikative) eine möglicherweise nicht
mit dem Geist der Verträge zu vereinbarende Machtfülle. Die Europäische
Union hat damit eine Knebelwirkung auf ihre Mitgliedstaaten, der nur
schwer zu widerstehen ist. Denn, so Grimm, „was
in der Verfassung geregelt ist, ist der politischen Entscheidung
entzogen. Es ist nicht mehr Thema, sondern Prämisse der Politik. Es
kann auch durch den Wahlausgang nicht beeinflusst werden.“ ([2],
p1051) Und auch durch Volksabstimmungen nicht, wie es (wenn auch in
einem anderen Sachzusammenhang) die Ereignisse in Griechenland im Jahr
2015 drastisch gezeigt haben. Pacta sunt servanda, so hiess es schon im Imperium Romanum.
Grimms oben zitierte Bemerkung, die mangelhafte „Einbettung des Parlaments“
betreffend, war im Übrigen auf das EU Parlament gemünzt. Ausser den
schon für die nationalen Parlamente erkannten Schwächen kommt hier
allerdings hinzu, dass das eigentlich für Parlamente bestimmende
Charakteristikum, eine Vertretung des Volkes zu sein, allenfalls
schwach ausgebildet ist. Dennoch ist das EU Parlament im Laufe der
Zeit, wie Grimm in [3] betont, mit immer mehr Kompetenzen ausgestattet
worden: von einem reinen Konsultativorgan in der ursprünglichen
Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) bis hin zur Mitbestimmung bei der
Abfassung von EU Gesetzen, gemäss dem Lissabon-Vertrag. Wurden in der
alten EWG seine Mitglieder noch von den nationalen Parlamenten
delegiert, so brachte die 1976 beschlossene und 1979 erstmals
praktizierte Direktwahl einen deutlichen Legitimationsschub mit sich.
Die Kernkompetenz eines Parlaments, nämlich Gesetzesinitiativen
einzubringen, hat es jedoch bis heute nicht. Dieses Initiativrecht ist
nach wie vor der Kommission vorbehalten. Und die Hauptrolle beim Erlass
dieser Gesetze (Verordnungen, Richtlinien) spielt immer noch der EU Ministerrat.
Das Manko, keine echte Volksvertretung zu sein, ergibt sich für das EU Parlament aus der Tatsache, dass es so etwas wie ein „europäisches Volk“
eigentlich nicht gibt. Wie bereits argumentiert, ist der Begriff „Volk“
schon im einzelstaatlichen (nationalen) Rahmen durchaus problematisch.
Dennoch gibt es im kollektiven Bewusstsein so etwas wie ein
französisches Volk, ein dänisches Volk, ein deutsches Volk, und so
weiter, aller Verschwommenheit des Begriffs „Volk“ zum Trotz. Und als
Ergebnis der europäischen Geschichte hat sich eine weitgehende
Korrespondenz zwischen Volk und Staat herausgebildet, zumindest
teilweise verstärkt durch die in den jeweiligen Staatsgebieten
vorherrschenden Mehrheitssprachen.
In gewisser Weise sind wir heute, was die
öffentliche Wahrnehmung Europas betrifft, nicht viel weiter als in der
zweiten Hälfte des 19ten Jahrhunderts. Eine „europäische Öffentlichkeit”,
zum Beispiel im Sinne von medialer Aufmerksamkeit für über nationale
Angelegenheiten hinausgehende Belange, gibt es allenfalls in Bereichen
der Wirtschaft, in intellektuellen Zirkeln und im Kunst- und
Wissenschaftsbetrieb (wobei insbesondere letztere ohnehin seit langem
eine globale Reichweite haben). Und nur wenn es, wie etwa in
krisenhaften Situationen, besonders hart hergeht auf europäischen
Bühnen, werden diese thematisiert, und dann meist recht oberflächlich
und oft mit erheblich negativen Untertönen bezogen auf Spieler, die
nicht zur jeweils eigenen Mannschaft gehören.
Unter anderem dem Fehlen einer
ausgeprägten, alle Sprachgrenzen überwindenden europäischen
Öffentlichkeit ist offenbar auch das Fehlen einer wahrhaft europäischen
Parteienlandschaft geschuldet: EU-weite
politische Gruppierungen, die im Verein mit entsprechenden Medien einen
auf genuine EU-Themen bezogenen Meinungs- und Willensbildungsprozess im Volk
aufrecht erhalten könnten, gibt es bis dato nicht. Dieses Manko wird
auch durch die im EU Parlamentsbetrieb vollzogene Bildung von Fraktionen
nicht wettgemacht. Ob Initiativen wie DiEM25 des Ökonomen und
kurzzeitigen früheren Finanzministers Griechenlands, Yanis Varoufakis,
einen hilfreichen Ansatz darstellen, bleibt abzuwarten.
Dennoch, und obwohl er eine weitere
Stärkung der Rolle des Parlaments auf der EU Bühne nicht für geeignet
hält, das durch die Konstitutionalisierung der Verträge herbeigeführte
Legitimationsdefizit zu verringern, sieht Grimm für das EU Parlament
eine tragende Funktion „als Gegengewicht gegen die Dominanz nationaler Interessen im Rat und die Dominanz technokratischer Tendenzen in der Kommission”
([3], p333). Ein vorsichtig optimistisches Urteil, immerhin. Vielleicht
auch deshalb, weil das Parlament bei allen Einschränkungen doch eine
gewisse Kontrollinstanz darstellt, der die Kommission
rechenschaftspflichtig ist.
Dagegen wurde bereits vor der Einführung
des Euro als Giralwährung Anfang 1999 ohne vertragliche Grundlage ein
Gremium installiert, welches keinem Parlament, weder europäisch noch
national, verantwortlich ist. Es handelt sich um die sogenannte Eurogruppe,
deren offenbar legitimationsfreie Machtfülle seit Beginn der Finanz-
und Wirtschaftskrise im Jahr 2008 allmählich zu Tage trat, mit
unterschiedlichen Einschätzungen in verschiedenen Mitgliedstaaten. (Die
Vergeblichkeit jeglichen Widerstands gegenüber dieser Machtfülle
seitens nationaler Demokratien wurde oben am Beispiel der
Griechenland-„Krise” 2015 angedeutet.) Grimm erwähnt die Eurogruppe in
keinem der hier zur Debatte stehenden Aufsätze. Der Lissabon-Vertrag
widmet ihr zwei Artikel, die ausdrücklich darauf hinweisen, dass es
sich um ein informelles Gremium handelt, dem die Finanzminister der
Staaten der Eurozone angehören, und zu
dessen Sitzungen bei Bedarf Vertreter der Europäischen Zentralbank
(EZB) geladen werden. Bedenkt man, welche Bedeutung öffentlichen
Finanz- und Etat-Fragen für das Wohl oder Wehe ganzer Bevölkerungen
zukommt, so erscheint es in der Tat verwunderlich, dass solche Fragen
in einem quasi demokratiefreien Raum abgehandelt werden. Tatsächlich
haben Entscheidungen dieses Gremiums die Lebenswirklichkeit vieler
Menschen in Europa durchaus negativ beeinflusst. Und es verwundert,
dass Grimm im Zusammenhang mit dem Begriff ”Akzeptanz”, davon keine
Notiz zu nehmen scheint.
Nun ist dieser Begriff allerdings
vielschichtig, und es scheint daher gewagt, einen direkten Bezug
herzustellen zwischen einem Defizit demokratischer Legitimation in
einem politischen System einerseits und der breiten Akzeptanz
politischer Entscheidungen innerhalb dieses Systems andererseits.
Diese Aussage beantwortet
implizit und in Kurzfassung zwei Fragen: (1) Was soll akzeptiert
werden? Antwort: politische Entscheidungen innerhalb eines politischen
Systems. (2) Wer soll akzeptieren? Antwort: eine breite Mehrheit derer,
die diese Entscheidungen betreffen. Doch mindestens zwei weitere Fragen
kommen hinzu: (3) Was bedeutet eigentlich Akzeptanz, woran erkennt man
sie? Und: (4) Wie entsteht, wie erreicht man Akzeptanz?
Die Postulierung eines
direkten Bezugs zwischen demokratischer Legitimation und Akzeptanz geht
davon aus, dass Entscheidungen, an denen die Betroffenen in geeigneter
Weise, zum Beispiel über gewählte Repräsentanten, mitwirken können, von
den Betroffenen leichter akzeptiert werden, als ohne deren Beteiligung.
Es handelt sich ja schliesslich um Entscheidungen, die sie quasi selbst
gefällt haben. Akzeptanz kann dann in verschiedener Weise umschrieben
werden: Zufriedenheit, nicht mehr
fordern, sich erfüllende Erwartungen, Hoffnungen, aber auch „in den
selbst gepflückten sprichwörtlichen sauren Apfel beissen”, und
Mehrheitsentscheidungen anerkennen. Nicht-Akzeptanz
zeigt sich im Entstehen von Bewegungen, die das Ziel haben, die
etablierte Ordnung grundlegend zu ändern oder - im Extremfall - zu
zerstören und durch eine neue zu ersetzen. Es sind zunächst
psychologische, massenpsychologische und soziale Dimensionen, in denen
das Desideratum ”Akzeptanz” zu verorten ist.
Für die EU wie für alle
übrigen politischen Gebilde bedeutet das genannte Postulat, dass diese
umso akzeptabler würden, je demokratischer sie wären, wenn also die
Legitimation ihrer Institutionen und Akteure letztlich auf die Menschen
zurückginge, die von ihren Politiken betroffen sind, und wenn diese
Menschen frei wären und die Möglichkeit hätten, eventuell notwendige
oder mehrheitlich gewünschte Änderungen von Strukturen, Inhalten und
Personalien der Politik zu bewirken. Diese Form der Selbstbestimmung
des Volkes ist gewissermassen die Theorie, und wenn die politische
Praxis dieser Theorie entspräche, so hätten wir womöglich eine Utopie
erreicht.
Doch vermutlich kann es
eine diese Theorie annähernd realisierende Praxis bestenfalls in
kleinen, überschaubaren Gruppen geben. Demokratisch legitimierte
Prozesse innerhalb von Millionengesellschaften in dem Sinne zu
implementieren, dass damit die Bedürfnisse einer grossen Mehrheit
befriedigt werden, ist dagegen, trivialerweise und wie auch im
vorangegangenen Abschnitt dargelegt, eine Herkulesaufgabe. Man kann im
Übrigen davon ausgehen, dass für die meisten Individuen in solchen
Gesellschaften sich eine Beteiligung am politischen Prozess (wenn
überhaupt) auf die punktuellen Wahlereignisse reduziert. Für die
Meisten erscheinen daher die Ergebnisse dieses Prozesses auf weit von
ihnen abgehobenen Willensakten zu beruhen. Insofern besteht hier für
die Meisten kaum ein Unterschied zwischen einem Dasein als Untertan und
einem als Bürger; kaum ein Unterschied zwischen ihrer Wahrnehmung demokratischer Legitimation und einer Legitimation von „Gottes Gnaden”.
Wenn nicht die Medien
wären, im Wortsinne die Vermittler zwischen Welten: zum Beispiel den
engen, persönlichen Welten der Meisten und den grossen weiten Welten
der politischen Klasse (und anderer sogenannter Eliten)
auf den verschiedenen Ebenen ihres Agierens (angefangen bei der
Bürgerinitiative, über Parteien, Parlamente, Regierungen, bis hin zu
„Europa”). Es sind die Medien, die sprichwörtliche vierte Gewalt
in einem demokratischen Staat, die, abgeleitet von den Aktionen der
politischen Klasse und oftmals im Verbund mit ihr, das Bild einer
Wirklichkeit erzeugen, die über die Lebenswirklichkeit der Meisten
hinausgeht und Bezüge zwischen dieser und dem übergeordneten Geschehen
herstellen. Es sind die Medien - vor allem immer noch Fernsehen,
Rundfunk, Presse aller Art, aber auch zunehmend Blogs im Internet und
sogenannte social networks - , in denen
Zustimmung oder Ablehnung in mannigfacher Form zum Ausdruck kommt.
Offenbar sind sie es, die - ihrerseits nur durch das Grundrecht der
Meinungs- und Pressefreiheit „legitimiert” - die „Stimmung im Volk”
nicht nur (mehr oder weniger) repräsentieren, sondern auch und vor
allem - nicht immer mit den lautersten Methoden - massgeblich
beeinflussen.
Es sind die Macher und
Mächtigen der medialen Öffentlichkeit, welche akzeptieren oder
ablehnen, nicht die Völker, gleichgültig ob es um nationale oder
europäische Belange geht. (Sondierungen der Art des sogenannten Eurobarometer, scheinen dies zu belegen, spiegeln sie doch die mediale Präsenz bestimmter Themen wider.) Für die Politik
besteht also das Problem nicht darin, die Zustimmung der Völker zu
erlangen, sondern die der jeweiligen Meinungsmacher (oder, etwas
vornehmer gesagt, der Meinungs-„eliten“).
Dies muss wohl gemeint
sein, wenn Grimm mit Bezug auf den Vertrag von Maastricht 1992 und die
Akzeptanz oder Ablehnung der EU, schreibt: „Zugleich
wollte er (der Maastricht Vertrag) Europa auf eine »neue Stufe bei der
Verwirklichung einer immer engeren Union der Völker Europas« heben. Aus
der EG wurde die EU, die Währungsunion wurde beschlossen. Wie sich
zeigte, waren die Völker Europas darauf aber nicht vorbereitet. Die
Zustimmung, auf die sich die Politik noch glaubte stützen zu können,
war Zustimmung für eine Wirtschaftsgemeinschaft gewesen, die längst
überschritten war.” ([2], p1052).
Ob es an mangelhaften Public Relations (früher Propaganda genannt, noch früher propaganda fide)
lag? Mit ziemlicher Sicherheit lag es auch an dem bereits
festgestellten Fehlen einer genuin europäischen Öffentlichkeit als
Diskussions- und meinungsbildendem Forum. Und vermutlich lag es, was
die Öffentlichkeit betrifft, nicht an
der ohnehin - Grimm zufolge - bereits längst stattgefundenen, aber kaum
zur Kenntnis genommenen Konstitutionalisierung der Verträge. Es drängt
sich allerdings der Verdacht auf, dass vielen der verantwortlichen
Politiker selbst der „Boden zu heiss wurde”, den sie sich bereitet
hatten, und ihnen - aus welchen Gründen und Motiven auch immer - die
Überzeugungskraft fehlte, das Projekt Europa der breiten medialen
Öffentlichkeit schmackhaft zu machen.
Die Ereignisse seitdem
haben den Boden nicht abgekühlt, im Gegenteil. Es gab in vieler
Hinsicht kein überzeugendes Spiel auf der europäischen Bühne. Dies
nicht zuletzt deshalb, weil die auf dieser Bühne auftretenden Spieler
auch auf ihren nationalen Bühnen einen Text sprechen, der oft dem
europäischen diametral entgegen steht. Es ist die Performanz der
Akteure und nicht so sehr die legitimatorische Konsistenz des dem Spiel
zugrundliegenden Skripts, auf die Kritiker ihr Augenmerk richten.
Wohlfeil Negatives darüber zu berichten, ist einträglicher als dem
Spiel als Ganzem positive Seiten abzugewinnen und diese gebührend
darzustellen. Dabei sind diese Seiten, wie auch Grimm hervorhebt,
unübersehbar: „Es gibt eine Begründung für
Europa, die hohe Plausibilität besitzt, weil die Vorteile, die eine
Europäisierung verspricht, auf andere Weise nicht zu haben sind. Der
Grund ist die wachsende Zahl grenzüberschreitender Probleme, deren
Lösung von der Politik erwartet wird, aber im engen Rahmen der
europäischen Nationalstaaten nicht mehr möglich ist. Zwischen dem
Aktionsradius machtvoller, global wirkender privater Akteure und dem
Aktionsradius der staatlichen Politik öffnet sich eine Kluft, die
allein durch die Internationalisierung öffentlicher Gewalt geschlossen
werden kann.” ([2], p1053)
Allerdings, und hier
trifft sich die Kritik „von Links” an der EU mit Grimms Kritik an der
(frühen) Rechtsprechung des EuGH, wird diese Internationalisierung
(durch, mehr oder weniger stringent: EU, NAFTA, WTO, IMF, etc.) von
genau jenem neoliberalen Zeitgeist geleitet, der die Macht jener global wirkenden privaten Akteure
erst ermöglicht hat und immer weiter vergrössert. Und der diesen auch
die Möglichkeit eröffnet, ihre Profitinteressen gegenüber den dem
Gemeinwohl verpflichteten staatlichen Organen durchzusetzen – und das
(wie man hört) vor Gerichten mit zweifelhafter Legitimation (Stichwort:
TTIP). Grimm scheint diese Problematik zu erkennen, wenn er schreibt: „Es
geht bei der Vergemeinschaftung darum, die Macht transnationaler
Akteure im Gemeinwohlinteresse Regeln zu unterwerfen, und das ist eine
politische Aufgabe.” Und er schliesst daraus: „Die Rückbildung der EU zum Gemeinsamen Markt wäre also mit dem Legitimationsgrund nicht vereinbar. ” ([2], p1054)
„Linke Kritik” moniert unter anderem, und das wohl mit Recht, dass die von Grimm so bezeichnete politische Aufgabe
nicht, oder allenfalls nur unzureichend angegangen wird. Inwieweit dies
eine Folge der zweifellos bestehenden formalen Legitimationsdefizite
ist, ist eine andere Frage. Zumindest aber ist zu fordern, dass die
transnationalen Akteure bei der Herausbildung der ihre Macht
einschränkenden Regeln weitgehend aussen vor bleiben, was, wie im
vorigen Abschnitt bereits ausgeführt, wohl nicht oder nicht immer
geschieht.
Während solche Kritik von
Links am derzeitigen Zustand der EU als durchaus konstruktiv bezeichnet
werden kann, tendieren ”rechte” Gegner dazu, das Bild durch und durch
schwarz zu malen und mit diffusen Appellen an eine Art Stammesinstinkt einer Re-Nationalisierung das Wort zu reden. Einige von ihnen können mit Fug und Recht als protofaschistisch
bezeichnet werden, indem sie versuchen, mit Hilfe von Sündenböcken
Stimmung „im Volk” zu machen und den „kleinen Leuten” vorgaukeln, in
sozialen Belangen auf ihrer Seite zu stehen, dabei aber in Wirklichkeit
nur die Besitzstandswahrung der oberen Schichten der Bevölkerung im
Auge haben und im Übrigen die neoliberalen sogenannten Reformen nicht nur nicht
in Frage stellen, sondern sie sogar noch verschärfen wollen. Wie es
nach einer Re-Nationalisierung vergemeinschafteter Politikfelder weiter
gehen soll, erfährt man von ihnen nicht.
„Was muss dann geschehen, um die Akzeptanz der EU zu erhöhen?”,
fragt Grimm. Und antwortet, weiter ausgehend von der Annahme eines
direkten Zusammenhangs zwischen Legitimation und Akzeptanz: „Wenn
das Legitimationsproblem der EU darin besteht, dass sich ihre
exekutiven und judikativen Instanzen vom Willen der sie tragenden
Mitgliedstaaten stark verselbständigt haben und Entscheidungen von
hohem politischen Gewicht in einem unpolitischen Modus fällen, dann
muss dafür Sorge getragen werden, dass die Verselbständigung begrenzt
wird und politische Entscheidungen in einem politischen Modus getroffen
werden.” ([2], p1057)
Zweifellos, das Legitimationsproblem, wie von Grimm aufgezeigt, zu lösen, ist eminent wichtig. Entscheidungen von hohem politischen Gewicht müssen in einem politischen Modus gefällt werden. Doch worauf es letztlich ankommt ist, die richtigen
Entscheidungen zu treffen, Entscheidungen, die der grossen Mehrheit der
EU Bürger soziale Perspektiven öffnen und die nicht davon ausgehen,
dass gutes Wirtschaften gleichbedeutend mit der Erhöhung des Shareholder Value ist. Für solche Entscheidungen ist der politische Modus vermutlich eine notwendige, sicher aber keine hinreichende Voraussetzung.
Es ist also zu bedenken,
dass die Akzeptanz der EU durch die „EU Völker“ nicht so sehr von der
Lösung des in seiner Komplexität und Subtilität von zirka 97% der
letztlich betroffenen Menschen nicht oder kaum verstandenen
Legitimationsproblems abhängt, sondern mehr noch zum Beispiel von
greifbaren Erfolgen einer europäischen Sozial- und Solidarpolitik, die
es allerdings nicht (oder fast nicht) gibt.
Solange den Benachteiligten
(eine durchaus dynamische Grösse!) der EU Gesellschaften mit mehr oder
weniger Berechtigung plausibel gemacht werden kann, dass ihre
vermeintliche oder tatsächliche Benachteiligung etwas „mit Europa“
(oder „dem Euro“, oder „der EU Bürokratie“, etc.) zu tun hat, so lange
wird es keine breite Akzeptanz von EU Kompetenzen durch die Völker
(Gesellschaften, Massen) der EU geben. Und ebenso lange werden rechte
Flötisten ein leichtes und zerstörerisches Spiel haben. Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral.
Potentiell noch destruktiver jedoch ist der Aufbau und die Dämonisierung eines äusseren Feindes als Integrations- und Akzeptanz-Katalysator gemäss dem Motto: „Wer ein Feindbild hat, hält besser zusammen und hält Manches aus”
(wie zu Zeiten des deutsch-französischen Krieges 1870-71, oder
irgendeines Krieges). Vielleicht ist es (auch) der Versuch der EU, eine
gemeinsame Aussen- und „Verteidigungs”-politik zu organisieren, der
Grimms Urteil begründet, die EU sei „über eine Wirtschaftsgemeinschaft längst hinaus gewachsen”
([2], p1057). Die diesen Versuch begleitende Rhetorik der EU
Verantwortlichen lässt freilich nichts Gutes erwarten. Statt Feindbild
und EU Armee – und unabhängig von der notwendigen Lösung des
Legitimationsproblems - muss es vielmehr ein allgemein verständliches „Wofür“
(zB Prosperität statt Austerität) der Integration geben, dem ebenso
allgemeine Zustimmung zuteil werden kann, und den erkennbaren Willen,
dieses Ziel auch zu erreichen. Es wäre fatal, stattdessen Bedrohungen
zu konstruieren, um mit diesen „das Volk” für die weitere Abarbeitung
einer neoliberalen Agenda gefügig zu machen.
Allerdings: in dem über
eine Wirtschaftsgemeinschaft hinausgewachsenen Staatenbund fehlen
offenbar entscheidende Instrumente und Verfahren, die ihn zu Sozial-
und Solidargemeinschaften machen könnten. Solange diese nicht gewollt
oder für nicht machbar gehalten werden (was wohl mit der fehlenden europäischen Öffentlichkeit zu tun hat), sollte zumindest die Währungsunion aufgegeben werden (leider). Eine Rückkehr zur Schlange des einstigen europäischen Währungssystems (EWS) wäre denkbar.
Aber es sollten wirksame Massnahmen zur Angleichung der Lebensverhältnisse
getroffen werden, die über den Glauben an einen ausgleichenden
(„Gleichgewicht“ erzeugenden) Markt hinausgehen, aber auch über die
bestehenden, aus den Regional- und Strukturfonds finanzierten
„Entwicklungsbeihilfen“.
Weiters müsste über
gemeinschaftliche Massnahmen nachgedacht werden zur Eindämmung der
wachsenden Ungleichheit innerhalb der EU Gesellschaften (bedingt u.a.
durch den „technischen Fortschritt“
beziehungsweise die zunehmende Substitution von Arbeit durch Kapital),
sicher einer der Gründe für eine mehr oder weniger klar wahrgenommene
soziale Benachteiligung vieler ihrer Individuen. (Eine europäische
Wirtschaftsverfassung mit Konstituierung neuer Eigentumsverhältnisse
wäre hier wahrscheinlich ein fast utopisches Maximalziel.)
Natürlich kann man fragen, ob die EU überhaupt eine Wirtschaftsgemeinschaft
ist, also eine Volkswirtschaft, die als Ganze erwirtschaftet, was sie
„zum Leben braucht“. Und eine der möglichen Antworten ist „Jein“. Es
handelt sich eher um eine Gemeinschaft von Volkswirtschaften. Es gibt in der EU – Eurostats Aggregaten und dem Gemeinsamen Markt zum Trotz - immer noch so viele Wirtschaften (bzw. Bruttosozialprodukte) wie es Mitglieder gibt, mit ebenso vielen Input-Output
Relationen (Leistungs- /Zahlungsbilanzen) und entsprechender Konkurrenz
auf Mitglieder-Ebene. (Wer wird Export-welt-europa-meister?)
Zwar gibt es ein EU Wettbewerbsrecht, das staatliche Beihilfen an Unternehmen verbietet, falls diese marktverzerrende Wirkungen haben
([2], p1048), doch hindert dieses Verbot offenbar nicht, durch
nationalstaatliche, offenbar EU-konforme Gesetzgebung („Reformen“)
nationalen Unternehmen bessere Exportchancen zu verschaffen: durch
Steuervorteile, „Flexibilisierung“, Lohndumping, Niedriglohnsektor,
Leiharbeit, Prekariat, Agenda 2010, etc., eine moderne Form des
Merkantilismus. Dabei wäre es mehr als angebracht, wenn „die
Externalitäten nationaler Politik für die übrigen Mitgliedstaaten nur
auf der übergeordneten europäischen Ebene bearbeitet würden”
([3], p. 335). Doch leider findet eine solche Bearbeitung bis dato
nicht oder nur sehr verhalten statt. Man denke zum Beispiel an die
Hinnahme der ständigen über das zulässige Mass hinausgehenden deutschen
Exportüberschüsse.
Eine wirkliche Wirtschaftsgemeinschaft
hätte ein Bruttosozialprodukt, und Konkurrenz fände überwiegend
zwischen Unternehmen statt und allenfalls zwischen Regionen und
Kommunen, nicht aber zwischen Einzelstaaten. Dann aber wäre eine solche
Gemeinschaft de facto ein (Bundes-)Staat mit zumindest einer für alle
verbindlichen Wirtschafts- und Sozialordnung.
Wenn wir einen solchen
Bundesstaat - aus welchen Gründen auch immer, zum Beispiel
verfassungsrechtlichen - (wie Dieter Grimm, in [3], p334) nicht
wollen, sollten wir dann nicht das Kind EU beim eigentlichen Namen
nennen: Gemeinsamer Markt mit Zollunion, immer noch, aber nun mit
partiell gemeinsamer Währung und allerlei aus „Mitgliedsbeiträgen“
finanzierten begleitenden Massnahmen?
Und sollten wir es nicht -
zumindest vorläufig, aber auf unbestimmte Zeit - lieber dabei belassen,
allerdings ohne eine gemeinsame Währung und das dadurch bedingte hohe
Konfliktpotential? Und auch ohne die explizite Ambition der
Verwirklichung einer „immer engeren Union der Völker Europas“ und einer wie immer gearteten Neuauflage einer europäischen „Verteidigungsgemeinschaft”. Und was die Macht transnationaler Akteure betrifft, so erfordert deren Zügelung im Gemeinwohlinteresse
wohl längst global wirksame Strategien. Vielleicht ist es dafür schon
zu spät. Doch lasst uns angesichts der zentrifugalen Kräfte in der
Union retten, was zu retten ist.
[1] Grimm,
Dieter: Europa ja – aber welches? Zur Verfassung der europäischen
Demokratie. C. H. Beck, München 2016, ISBN 978-3-406-68869-0.
[2] Grimm, Dieter: Europa: Ja – aber welches?. Merkur 68 (787), 2014
[3] Grimm,
Dieter: Auf der Suche nach Akzeptanz - Über Legitimationsdefizite und
Legitimationsressourcen der Europäischen Union. Leviathan, 43. Jg.,
3/2015, S. 325 – 338